Triggerwarnung: Häusliche Gewalt
In meinem Gästehaus passiert gerade einiges. Jede Nacht um 12 Uhr, auf die Minute genau, fängt das Pärchen in dem anderen Zimmer an zu streiten. Erst knallen die Türen, darauf folgt lautes Geschrei, einer von beiden weint lauthals und fleht um irgendwas. Verstehen tue ich nichts, bis auf, dass oft das Wort „Dinero“ fällt – Es geht anscheinend oft um Geld. Manchmal stürmt einer von beiden wutentbrannt nach draußen, und schlägt die Haustür zu, um 10 Minuten später wie verrückt an die Tür zu trommeln und die übertrieben laute Klingel zu betätigen, die den ganzen Hausflur mit diesem unangenehmen, schrillen Surren beschallt, wie man es von diesen alten Telefonen mit Wählscheibe kennt.
Ich versuche mir mit Kopfhörern oder Ohrenstöpseln die benötigte Ruhe zu verschaffen, was allerdings nur bedingt funktioniert. Außerdem bemerke ich, dass schlagende Türen und aggressive Stimmen in nächtlicher Stille in mir ein paar alte Trauma-ähnliche Reaktionen wachrütteln, die ich noch nicht aus meinem System entfernen konnte.
Für eine gewisse Zeitspanne in meiner Jugend lag ich oft nachts wach und schreckte bei jedem kleinen Geräusch auf. Ich hatte Angst, dass wieder irgendwer streitet, gleich irgendein Gegenstand durch die Gegend fliegt oder der Hausherr mit wüsten Drohungen aus der Haustür stürmt. Besonders wenn Eltern im Begriff sind sich zu trennen, ist das für viele Kinder vermutlich bittere Realität. In dieser Zeit fing es an, dass ich nicht mehr in völliger Stille einschlafen konnte, ich brauchte zumindest das Rauschen der Straße bei offenem Fenster oder ein Hörbuch und zu einem gewissen Teil steckt mir diese Angst- und Stressreaktion anscheinend immer noch in den Knochen.
Am nächsten Morgen überlege ich, ob ich meinem Vermieter Bescheid geben soll, allerdings denke ich, dass die beiden bereits genug Probleme haben und nicht auch noch auf die Straße gesetzt werden sollen, nur weil ich mich über den Lärm beschwere.
Nach der dritten Nacht mit wenig Schlaf schleppe ich mich am Morgen aus dem Haus, um in einem Café an meinen Projekten zu arbeiten. Ganze 5 Stunden bin ich konzentriert bei der Sache und kompensiere meinen Schlafmangel mit Kaffee und Tee.
Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Beim Aufschließen der Tür bemerke ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Irgendwie ist die Tür durchsichtig geworden. Der Rahmen ist geschlossen, aber ich kann in das Treppenhaus gucken. Ich greife ungläubig in die Tür, um zu prüfen, ob ich einen Knick in der Optik habe oder jemand heute Morgen ein Glasfenster eingebaut hat. Weder noch. Ich greife einfach durch den Türrahmen und bemerke dann, dass der Mittelteil der Tür einfach im Hausflur steht.
Ich mache ein Foto, gehe in mein Zimmer und schreibe den Vermieter, was es mit dieser Baustelle auf sich hat. Seine Antwort ist ein entsetztes „Was zur Hölle ist denn da passiert? Ich komme vorbei.“
Ich merke wie die ganze Situation mich intensiv triggert. Mein Herz fängt wie wild an zu klopfen und ein beklemmendes Gefühl überkommt mich. Mein Kopf fängt an sich wirre Geschichten auszudenken, überlegt ob der Vermieter mich beschuldigen würde, weil er mir nicht glaubt und ob es von nun an sicher ist hier zu wohnen. Ein Schatten legt sich über meine Gedanken, der mir aber nicht fremd ist. Ich kenne diese Art des Misstrauens gegenüber der Menschheit. Das hat mich in meiner Vergangenheit schon des Öfteren eingeholt.
Ich erkenne das Muster in mir und wende ein paar Techniken an, die ich in den letzten Jahren gelernt habe. Ich entspanne meinen Körper, gehe leicht in die Knie, atme tief ein und aus, schüttele mich kurz und setze ein künstliches Lächeln in mein Gesicht. „Alter, mal dir keine Horrorszenarien aus, es ist nichts passiert. Das hat nichts mit dir zu tun, entspann dich. Der Vermieter wird das schon klären.“
Ich kann mich aus dem Stresszustand zurück in die Wirklichkeit holen und auch das Herzklopfen beruhigt sich. Aber irgendwie liegt trotzdem noch eine angespannte Stimmung in der Luft. Der Vermieter kommt und klopft bei dem Pärchen, um zu fragen was passiert ist. Die Frau öffnet unter Tränen und etwas panisch die Tür.
Sie erklärt ihm, dass die Streits eskaliert sind und sie Angst hatte ihren Mann wieder in die Wohnung zu lassen. Sie hat die Polizei gerufen und ihn abholen lassen, während er versuchte sich mit Gewalt Zugang zum Haus zu verschaffen. Deshalb ist wohl auch die Tür demoliert. Zum Glück gibt es am Ende der Treppe eine zweite Tür mit Bolzenverschluss.
Der Vermieter klärt alles Weitere und die Frau zieht am selben Tag noch aus. Doch weder ich noch der Vermieter wissen wirklich, ob ihr Mann in Verwahrung bleibt oder die nächsten Tage plötzlich wieder vor der Tür stehen könnte. Schlafen tue ich die folgende Nacht nicht viel. Bei jedem Knallen einer Autotür schrecke ich zusammen und versuche genau zu lauschen, was da draußen vor sich geht. Es hilft auch nicht, dass sich eine penetrante Mücke Zutritt zu meinem Schlafzimmer verschafft hat und immer, wenn ich gerade kurz vorm Einschlafen bin, anfängt in mein Ohr zu summen.
Am nächsten Morgen lasse ich mir das alles nochmal durch den Kopf gehen und versuche heraus zu finden, wo diesmal diese irrationale Stressreaktion meines Körpers ihren Ursprung hatte. An irgendetwas aus meiner Kindheit oder Jugend erinnern mich dieses mulmige Gefühl, das Misstrauen gegenüber der Menschheit und diese Angst vor der Unberechenbarkeit von bestimmten Personen.
Viele dieser Stressreaktionen und Blockaden habe ich in meiner Vergangenheit bereits gelöst, aber dieses scheint noch ein wichtiger Baustein meiner inneren Reise zu sein.
Ich bin gespannt, wann ich rausfinde, woher diese Gefühlskette wirklich kommt. Es wird sich mir zeigen, wenn es Zeit dafür ist.